Hochspezifische Diagnosemöglichkeiten, neue symptomatische und molekulare Therapieansätze – die letzten Jahre haben entscheidende Fortschritte bei neuromuskulären Erkrankungen gebracht. Welche Bedeutung hat die Gentherapie, die Sie als Kongresspräsident als Schwerpunkt der Jahrestagung gesetzt haben?
Dr. Großkreutz: Der Kongress findet in diesem Jahr in einer außergewöhnlichen Situation statt, in der sehr grundsätzliche Dinge der Medizinlandschaft diskutiert werden. So gibt es eine Vielzahl neuer Erkenntnisse über den Einfluss genetischer Faktoren bei neuromuskulären Erkrankungen. Auf der einen Seite steht die technische Machbarkeit: Können wir die Gentherapie tatsächlich als Zukunftstechnologie sehen, die sich innerhalb der Medizin langfristig etablieren wird? Die Antwort ist: Ja! Innerhalb von zwei Jahren wurden drei verschiedene gentherapeutische Prinzipien für eine Krankheit entwickelt, die in kürzester Zeit die Marktzulassung erreicht haben. Das bedeutet: Zusätzlich zu einem enorm hohen Wissensstand zu genetischen Ursachen existieren innovative, technische Möglichkeiten zur Entwicklung neuer Therapieansätze. Daraus resultiert nahezu automatisch, dass eine Krankheit nach der anderen behandelt werden wird. Das sorgt im Wissenschaftsgefüge genauso wie im Krankenhausgefüge für einen Quantensprung, der gesellschaftlich erst einmal verstanden und angenommen werden muss, damit er nicht zu dem Gefühl eines Schiefstandes führt.
Gentherapien sind wirkungsvoll, bisher aber extrem kostenintensiv. Wie ist das zu lösen?
Dr. Großkreutz: Es muss von einem breiten Konsens getragen werden, dass in der jetzigen Phase sehr viel Geld für noch wenige Krankheiten ausgegeben wird. Wir hoffen, dass innerhalb weniger Jahren die Entwicklung einer Gentherapie zum Standard wird. Ich denke, dass auf Dauer auch die Sozialkassen nicht mehr belastet werden als durch die sonstige Regelversorgung. Mit dem Kongress starten wir den Versuch, diese Diskussion öffentlich und damit konsensfähig zu machen. Wenn wir gelernt haben, mit Gentherapien als normaler Behandlungsform umzugehen, das entsprechende Monitoring einzurichten und zu realisieren, dann denke ich, werden die Kosten innerhalb weniger Jahre enorm sinken. Bei manchen Erkrankungsformen wird die Gentherapie keinen so hohen Wirksamkeitsgrad erreichen wie bei der spinalen Muskelatrophie. Aber das müssen wir dann alles sehen – das ist jetzt noch zu früh.
Der Kongress bietet auch für Betroffene, Angehörige und neuromuskuläre Netzwerke Informationen zu aktuellen Diskussionen und neuen Erkenntnissen. Angesichts der rund 800 unterschiedlichen Muskelerkrankungen stellt sich die Frage, welche Patienten schon jetzt von der Gentherapie profitieren können und wie die weiteren Schritte sind. Ist der „Quantensprung“ schon in greifbarer Nähe für alle?
Dr. Großkreutz: So ist es leider nicht, da muss man erst einmal viel Verständnis aufbringen. Wir werden auf dem Kongress eine Reihe von Blickwinkeln aufarbeiten können, darunter auch den Blickwinkel der Betroffenen. Und es ist tatsächlich so: Bei 800 neuromuskulären Erkrankungen und nur drei gentechnischen Behandlungen fühlen sich die anderen 797 erst einmal zurückgesetzt. Aber in der neuromuskulären Gemeinschaft wissen die Patienten, dass die gegenseitige Solidarität sie stark macht. Wir stehen alle sehr eindeutig hinter den neuen Entwicklungen und sind froh über das schnelle Vorankommen der neuen Therapien. Durch den inneren Zusammenhalt der Patienten, die selbst gern mehr über die spezielle Form ihrer Erkrankung wissen wollen, sind sie als Gruppe ganz klar als Muskelkranke zu erkennen. Damit identifizieren sie sich und treten gesellschaftlich gemeinsam auf. Das ist eine der großen Stärken der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke – eine Bewusstseinsentwicklung über die letzten 50 Jahre, die immer aufrecht erhalten werden konnte.
Die neuen Gentherapien werfen viele Fragen auf: In welchem Alter sind sie einsetzbar? Und gibt es schon Anhaltspunkte, wie lange sie wirksam sind und welche Nebenwirkungen auftreten können?
Dr. Großkreutz: Da sind wir noch ganz am Anfang. Der erste wichtige Schritt war das Erreichen einer auf Daten basierenden guten Wirksamkeit bei der Behandlung von Neugeborenen und Kindern, die sich auch auf Erwachsene übertragen ließ. Das sind Daten, die wir erst in der Anwendung gefunden haben. Der Vorteil der neuen Gentherapien ist, dass es eine Auflage bei der Zulassung und bei der Anwendung gibt – die Patienten werden alle sehr umfangreich in Registern eingeschlossen. Das heißt, wir werden hoffentlich auch in den nächsten Jahren weiter Daten sammeln und die mittel- und langfristigen Folgen einer Gentherapie abbilden können, um weitere Zusammenhänge aufzuklären.
Auch wenn es jetzt noch keine Daten zur Langzeiteffektivität geben kann – gibt es schon Anhaltspunkte, ob Gentherapien lebenslang durchgeführt werden müssen?
Dr. Großkreutz: Zumindest bei zwei der drei Therapieprinzipien. Bei der Genersatztherapie ist eine lebenslange Wirksamkeit möglich. Es kann aber auch sein, dass irgendwann einmal aufgefrischt werden muss. Wir wissen das noch nicht genau. Grundsätzlich ist eine Gentherapie aber für eine lebenslange Behandlung angelegt. Das bedeutet, wenn wir Kinder und Säuglinge behandeln, haben wir ein Leben von 70, 80, 90 Jahren vor uns. Bevor wir sie nicht über Jahrzehnte beobachtet haben, werden wir nicht wissen können, welche Langzeitfolgen eine solche Therapie haben kann. Aber – das kann man an dieser Stelle wohl sagen –, es sind keine gesunde Menschen, die eine Gentherapie bekommen. Sondern es sind Menschen, die an einer schweren Krankheit leiden. Somit ist die relativ rasche Wirksamkeit der Gentherapie erst einmal ein Riesenschritt nach vorne!
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