Der aus München zugeschaltete Gutachter Frank Bajohr sagte bei der Pressekonferenz: „Die Jahre nach der deutschen Einheit waren geprägt von teils heftigen erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen, nicht zuletzt in der Gedenkstätte Sachsenhausen, wo um die zweifache Geschichte des Ortes als Konzentrationslager und sowjetisches Speziallager gestritten wurde. Derartige Kontoversen gehören selbstverständlich zu einer lebendigen Erinnerungskultur. Allerdings spielte Gisela Gneist dabei eine mehr als problematische Rolle. Historikern und Gedenkstättenleitern, die um Ausgewogenheit und Differenzierung bemüht waren, trat sie in polemisch-konfrontativer Weise entgegen, teils versetzt mit antisemitischen Untertönen und persönlichen Diffamierungen. Gleichzeitig zeigte sie keine Berührungsängste gegenüber rechtsextremistischen Positionen und Personen. So gehörte sie beispielsweise 2005 zu den Unterzeichnern eines geschichtsrevisionistischen Aufrufs zum 60. Jahrestag des Kriegsendes, den der neurechte Publizist Götz Kubitscheck veranlasst hatte. Im gleichen Jahr lud sie den ins neurechte Lager abgedrifteten Schriftsteller und Journalisten Ulrich Schacht ein, bei einer Gedenkveranstaltung in Sachsenhausen eine Ansprache zu halten, bei der dieser gegen die bundesdeutsche Erinnerungskultur polemisierte“, sagte Bajohr.
Auch die Umstände von Gneists Verhaftung werfen Fragen auf, wie der aus Berlin zugeschaltete Gutachter Hermann Wentker ergänzte: „Gneist war selbst BDM-Führerin. In der antisowjetischen Gruppe ‚Deutsche Nationaldemokratische Partei‘, wo sie 1945 in Wittenberge aktiv war, fungierte ein ehemaliger SS-Offiziersanwärter als stellvertretender Vorsitzender. In der hektographierten Zeitschrift der Gruppe mit dem bezeichnenden Titel ‚Germanische Freiheit‘ wurde nach Aussage eines anderen Gruppenmitglieds über den Bolschewismus aufgeklärt. Da die sowjetischen Ermittlungsakten, in denen sich möglicherweise Exemplare der Zeitschrift befinden, uns nicht zugänglich waren, konnten wir nicht überprüfen, ob die Gruppe sich in der Ideenwelt des nationalsozialistischen Anti-Bolschewismus bewegte. In ihren zahlreichen Selbstaussagen über ihre Verfolgungsgeschichte thematisiert Gneist diese Hintergründe in keiner Weise“, sagte Wentker.
Am Schluss ihres Gutachtens fassen Bajohr und Wentker ihre Ergebnisse wie folgt zusammen: „Insgesamt zeichnen die verschiedenen Vorgänge um Frau Gneist das Bild einer Person, die zwar engagiert für die Interessen und öffentliche Wahrnehmbarkeit der ehemaligen Insassen der sowjetischen Speziallager eintrat. Dabei schoss sie jedoch mehr als einmal in problematischer Weise über das Ziel hinaus, verweigerte sie sich jeder differenzierten Diskussion um die Vergangenheit eines Teils der Inhaftierten, igelte sich in polemischer Konfrontation gegen die Gedenkstättenleitungen nach 1989 ein und verharrte schließlich in einer Oppositionshaltung gegen die Erinnerungskultur der Bundesrepublik, oftmals in enger Verbindung mit verschiedenen Personen am rechten und rechtsextremen Rand des politischen Spektrums.“
Axel Drecoll hob hervor: „Die sowjetischen Speziallager waren Orte von Unmenschlichkeit, Rechtlosigkeit und Gewalt. Zu unserer demokratischen Erinnerungskultur gehört selbstverständlich, an das Leid der Speziallagerinhaftierten, zu denen auch Gisela Gneist gehörte, zu erinnern. Wir in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten nehmen diese Aufgabe sehr ernst. Das Neubaugebiet ‚Aderluch‘ befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenkommandos „Zeppelin“, wo zwischen 1942 und 1945 hunderte KZ-Häftlinge, vor allem minderjährige Osteuropäer, unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Personen, nach denen Straßen in einem solchen Gebiet benannt werden, müssen gerade hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Verbrechen über jeden Zweifel erhaben sein. Wir haben viel Verständnis für die persönliche Situation und die Erinnerungsanliegen einer ehemaligen Speziallagerinhaftierten; die Ergebnisse des Gutachtens verdeutlichen allerdings Gisela Gneists ausgesprochen problematische Haltung zur Aufarbeitung des NS-Regimes. Einer differenzierten Auseinandersetzung mit NS-Belastung und NS-Täterschaft unter den Speziallagerhäftlingen hat sie sich zudem offensichtlich komplett verweigert und auch Kontakte ins rechte und rechtsextreme Lager nicht gescheut.“
Gerade an einem solchen historischen Ort gelte es zudem, so der Stiftungsdirektor weiter, die Anliegen der KZ-Überlebenden und ihrer Angehörigen besonders zu berücksichtigen. Für viele von ihnen komme die jetzige Straßenbenennung einem Affront gleich. „Eine Straßenbenennung nach Gisela Gneist wird den historischen Gegebenheiten vor Ort nicht gerecht und ist aus Sicht der Gedenkstättenstiftung falsch. Eine Fortsetzung des bereits im Vorfeld geführten kritischen Dialogs mit Bürgermeister und Stadtverordneten ist dringend geboten“, so Drecoll abschließend.
Bereits am vergangenen Mittwoch hatte die Gedenkstättenstiftung die Fraktionen von SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, FWO/Piraten und FDP sowie den Vorsitzenden der Stadtverordnetenversammlung Dirk Blettermann und Bürgermeister Alexander Laesicke über den Inhalt des Gutachtens bei einem Online-Gespräch informiert, an dem auch der Gutachter Frank Bajohr, der Präsident des Internationalen Sachsenhausen Komitees Andreas Meyer und Ran Ronen, Vertreter des Zentralrats der Juden im Beirat und im Stiftungsrat der Gedenkstättenstiftung, teilnahmen.
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