Doch die Realität sieht anders aus: Menschen mit Prädiabetes oder einem neu festgestellten Typ-2-Diabetes werden nicht über ihre Möglichkeiten informiert, den Diabetes zu verhindern oder zurück-zubilden – ein Skandal, der dringend öffentliche Aufmerksamkeit verdient.
Die Deutsche Akademie für Präventivmedizin (DAPM) fordert mit Nachdruck eine Neuausrichtung der Gesundheitspolitik: Statt die Krankheit Diabetes „zu verwalten“, sollten alle Möglichkeiten ausge-schöpft werden, um den Typ 2-Diabetes zu vermeiden bzw. ihn wieder loszuwerden.
Die Fakten in Kürze:
• Mehr als 500.000 Menschen erkranken jedes Jahr in Deutschland neu an Typ-2-Diabetes.
• 80 % dieser Fälle könnten durch präventive Maßnahmen vermieden werden.
• Mindestens 5 von 10 Millionen Menschen mit bekanntem Diabetes könnten ihren Diabetes wieder loswerden – ganz ohne Medikamente.
• Doch das System verdient am Diabetes – nicht an dessen Prävention.
• Ökonomische Fehlanreize im Morbi-RSA belohnen Leistungserbringer und Krankenkassen für mehr Diabetes-Patienten, nicht für mehr Prävention.
Diabetes als vermeidbare Epidemie – das Versagen des Gesundheitssystems
In Deutschland leiden knapp 10 Mio. Erwachsene an Typ 2-Diabetes – jedes Jahr kommen mehr als 500.000 neue Fälle hinzu. (1) Diabetes ist ein führender Risikofaktor für vorzeitige arteriosklerotische Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall, für die chronische Niereninsuffizienz (Nierenversa-gen), für Krebs und Demenz. Wer mit 50 Jahren an Diabetes erkrankt, verliert 6-7 gesunde Lebens-jahre. (2)
Trotz dieser alarmierenden Zahlen wird Menschen mit Prädiabetes nicht vermittelt, wie sie ihre Erkrankung verhindern könnten. Und auch Menschen mit neu diagnostiziertem Diabetes wird ver-schwiegen, dass sie ihre Krankheit sogar ohne Medikamente in den Griff bekommen und zurückbilden können. Unser Gesundheitssystem lässt Millionen Menschen bewusst im Stich – zur Freude der Phar-maindustrie und anderer Profiteure.
Die Wahrheit, die Menschen mit Prädiabetes nicht erfahren
Übergewicht und Adipositas nehmen gerade bei jüngeren Menschen zu. Damit steigt auch das Risiko für einen gestörten Zuckerstoffwechsel und langfristig für Diabetes.
Von 100 Menschen mit Prädiabetes entwickeln in den kommenden 10 Jahren mindestens 35 einen manifesten Typ-2-Diabetes. (3)
Dabei könnten 80 % dieser Fälle durch eine Lebensstiländerung verhindert werden. (4) Doch Menschen mit Prädiabetes bekommen häufig keine ausreichenden Informationen über die Bedeutung von Ernährung und Bewegung für ihre Gesundheit.
Zahlreiche, voneinander unabhängige Studien belegen, dass durch eine kohlenhydratreduzierte Ernährung und regelmäßige körperliche Aktivität das Risiko einer Diabetesentwicklung drastisch gesenkt werden kann. Doch statt die Menschen proaktiv über diese Möglichkeiten aufzuklären, setzt das System auf die spätere medikamentöse Behandlung.
Finanzielle Interessen gegen Patientenwohl: Wer am Diabetes verdient
Im deutschen Gesundheitssystem gibt es keine wirksame Diabetes-Prävention. Zu viele Leistungs-erbringer verdienen gut an der Krankheit und selbst Krankenkassen erhalten durch Fehlanreize im Morbi-RSA höhere Deckungsbeiträge pro Patient, wenn sie mehr Diabetes-Patienten versorgen. Für die Umstellung auf Insulin – eine oft unnötige Maßnahme – erhält eine Kasse nach der HMG 20 (Hie-rarchisierte Morbiditätsgruppe 20 im Morbi-RSA) mehr als 2400 € Zuschlag pro Jahr und Patient. (5) Durch gute Diabetesprävention würden die Kassen dagegen finanzielle Einbußen erleiden. Eine lange bekannte, krasse Fehlsteuerung, an der die Politik jedoch bisher nichts ändert.
Es ist ein gesundheitspolitischer Skandal: Prävention wird ignoriert, während Diabetes für viele ein lukratives Geschäft bleibt. Und die Versicherten zahlen die Zeche! Von den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung werden aktuell viele Milliarden für die Behandlung einer grundsätzlich vermeid-baren Erkrankung verschwendet. Durch Programme zur Diabetesprävention und Rückbildung könnten die Kosten im Gesundheitswesen reduziert und die Krankenkassenbeiträge stabilisiert werden.
Veraltete Ernährungsempfehlungen: Die Rolle der Fachgesellschaften
Seit Anfang der 80er Jahre hatten Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) und die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) sowohl der Allgemeinbevölkerung als auch Men-schen mit Diabetes empfohlen, sich fettarm zu ernähren. Dadurch wurde die Epidemie von Überge-wicht und Diabetes erst recht gefördert, denn der durch die Verharmlosung von Zucker bewirkte höhere Konsum von Kohlenhydraten führt nachweislich zu Leberverfettung, Insulinresistenz, Gewichtszunahme und schließlich zum Typ 2-Diabetes. (6)
Sowohl die amerikanische Diabetesgesellschaft ADA als auch die Deutsche Diabetes Gesellschaft DDG haben vor wenigen Jahren in ihren Leitlinien anerkannt, dass die beste Möglichkeit zur Optimierung des Zuckerstoffwechsels bei Typ 2-Diabetes (= Senkung des Langzeit-Blutzuckermesswertes HbA1c) eine kohlenhydratreduzierte Ernährungsweise darstellt. (7)
Ein Umbrella-Review des Deutschen Diabetes Zentrums Düsseldorf hat 2023 noch einmal bestätigt, dass Low-Carb mit höchsten Evidenzgrad vorteilhaft für Menschen mit Typ 2-Diabetes ist.
Dennoch leben die alten Empfehlungen zum Fettsparen immer wieder auf – zuletzt unter dem Deck-mantel des Klimaschutzes sogar bei der WHO. (8) Ob da auch heute noch im Hintergrund die Zucker-lobby rührt? (9) So werden substanzielle Fortschritte in der Diabetesprävention erschwert.
Die vergessene Chance der Rückbildung – „Remission: is possible!“
Bis zu 70 % der Menschen mit neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes könnten ihre Krankheit durch Lebensstiländerungen zurückbilden – ganz ohne Medikamente. Dies zeigen Daten aus den USA (VIRTA Health-Studie) und aus Großbritannien (Dr. David Unwin). (10, 11)
Doch im deutschen Gesundheitswesen gibt es weder Programme zur Diabetesrückbildung, noch zeigt die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) ein ernsthaftes Interesse daran. Denn anders als mit den neuen Hormonspritzen zum Abnehmen ist mit Diabetesrückbildung kein Geschäft zu machen. Neben-bei: 250 000 € Sponsoring pro Jahr erhält die DDG allein von Novo Nordisk. Und maßgebliche Exper-ten zum Thema weigern sich, ihre Einnahmen durch Beraterhonorare und Sponsoring offenzulegen. Sie sind in Deutschland nicht dazu verpflichtet.
Forderung an die Politik: Jetzt Prävention zur Priorität machen!
Der Typ-2-Diabetes ist eine vermeidbare und in der Mehrzahl der Fälle sogar reversible Krankheit. (12) Dass unser Gesundheitssystem dennoch nichts zur Vermeidung oder Rückbildung von Diabetes unternimmt, liegt daran, dass die meisten Mitwirkenden gut am Diabetes verdienen. Zu viele von ihnen hätten finanzielle Nachteile zu befürchten, würde man die Zahl der Menschen mit Diabetes deutlich senken.
Menschen mit Prädiabetes bekommen häufig keine ausreichenden Informationen über die Bedeu-tung von Kohlenhydratreduktion in der Ernährung und die richtige Menge und Dosis an körperlicher Aktivität und Sport für ihre Gesundheit. Statt die Menschen proaktiv über diese Möglichkeiten aufzu-klären, setzt das System auf die spätere medikamentöse Behandlung.
Die DAPM fordert:
• Wir brauchen bevölkerungsweite, zielgruppengerechte und kulturell sensible Pro-gramme zur Diabetesprävention und zur Diabetesrückbildung. Sie sollen den Men-schen den Typ 2-Diabetes als vermeidbare Krankheit verständlich machen und sie so zur Prävention motivieren.
• Die Gesundheitspolitik muss ökonomische Anreize zur Prävention schaffen, anstatt Präventionsprogramme durch eine Fehlsteuerung im Morbi-RSA zu verhindern.
• In den Fachgesellschaften und Leitliniengremien ist erheblich mehr Transparenz zu möglichen Interessenkonflikten notwendig. Experten sollten ihre Nebeneinkünfte aus Beraterhonoraren und Sponsoring vollständig offenlegen müssen.
Quellenangaben:
1. Reitzle L et al., Inzidenz von Typ-1- und Typ-2-Diabetes vor und während der COVID-19-Pandemie in Deutschland: Analyse von Routinedaten der Jahre 2015 bis 2021. Journal of Health Monitoring 2023; 8(S5). https://doi.org/…
2. Emerging Risk Factors Collaboration. Life expectancy associated with different ages at diagnosis of type 2 diabetes in high-income countries: 23 million person-years of observation. Lancet Diabetes Endocrinol 2023; 11: 731-42. https://doi.org/…(23)00223-1
3. Morris DH et al., Progression rates from HbA1c 6.0–6.4% and other prediabetes definitions to type 2 diabetes: a meta-analysis. Diabetologia (2013) 56:1489–1493. https://doi.org/…
4. Scholl JG, Kurz PU, P358, Successful diabetes prevention – the Prevention First longitudinal study (PFLS) European Journal of Preventive Cardiology (May 2018) 25 (Supplement 1), 66. https://doi.org/…
5. Weinhold I et al., Economic impact of disease prevention in a morbidity-based financing system: does prevention pay off for a statutory health insurance fund in Germany? European Journal of Health Economics 2019; 20: 1181–1193. https://doi.org/…
6. Magkos, F., Sørensen, T.I.A., Raubenheimer, D. et al. On the pathogenesis of obesity: causal models and missing pieces of the puzzle. Nat Metab (2024). https://doi.org/…
7. Szczerba Edyta et al., Diet in the management of type 2 diabetes: umbrella review of systematic reviews with meta-analyses of randomised controlled trials. BMJMED 2023; 2: e000664. https://doi.org/…
8. Kearns Cristin E., Schmidt Laura A., Glantz Stanton A., Sugar Industry and Coronary Heart Disease Research – A Historical Analysis of Internal Industry Documents. JAMA Intern Med. 2016;176(11):1680–1685. https://doi.org/…
9. Ludwig David S., Hu Frank B., Lichtenstein Alice H., Willett Walter C., Low-fat diet Redux at WHO. The American Journal of Clinical Nutrition 2023; 118(5): 849-851. https://doi.org/… .
10. Hallberg SJ et al., Effectiveness and Safety of a Novel Care Model for the Management of Type 2 Diabetes at 1 Year: An Open-Label, Non-Randomized, Controlled Study. Diabetes Ther 2018, 9: 583-612, https://doi.org/…
11. Unwin David et al., Insights from a general practice service evaluation supporting a lower carbohydrate diet in patients with type 2 diabetes mellitus and prediabetes: a secondary analysis of routine clinic data including HbA1c, weight and prescribing over 6 years. BMJ Nutrition, Prevention & Health 2020; 3: e000072. https://doi.org/…
12. Scholl Johannes, Snowdon Bettina. Diabetes zurück auf Null: Die Erkrankung stoppen und gesund werden. TRIAS; 1. Edition (5. Oktober 2022). www.diabetesaufnull.de
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