Möglicher Anspruch auf Bürgergeld in der Zeit der Angehörigenpflege

Können Menschen, die ihre Erwerbstätigkeit reduzieren oder eine Zeit lang ganz ruhen lassen und etwa eine Pflegezeit nehmen, den Einkommensausfall durch Bürgergeld kompensieren? Wäre das Bürgergeld ein bedingungsloses Grundeinkommen, so wäre diese Frage ganz einfach mit "Ja" zu beantworten. Doch das Bürgergeld ist an Bedingungen gebunden – vor allem an die Bedingung, dass sich die Bezieher um die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit bemühen müssen. Deshalb ist die obige Frage mit "kommt ganz darauf an" zu beantworten.

Tipp: Zumindest, wenn Sie einen Pflegebedürftigen mit Pflegegrad 4 oder 5 betreuen, sind Sie im Regelfall nicht verpflichtet, neben der Pflege einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Arbeitsaufnahme gilt dann für Sie als nicht zumutbar. Damit können Sie also Bürgergeld erhalten, um gegebenenfalls einen Einkommensausfall, etwa während der Pflegezeit oder der Familienpflegezeit, zu kompensieren.

Die Regelungen zur Zumutbarkeit finden sich in § 10 SGB II. Zunächst ist darin ausgeführt, dass für Erwerbsfähige "jede Arbeit zumutbar" ist. Es folgen die Ausnahmen. In Absatz 4 findet sich die hier interessierende Ausnahmeklausel für die Angehörigenpflege. Eine Arbeitsaufnahme gilt danach als unzumutbar, wenn "die Ausübung der Arbeit mit der Pflege einer oder eines Angehörigen nicht vereinbar wäre und die Pflege nicht auf andere Weise sichergestellt werden kann".

Die Ausnahmeklausel zur Angehörigenpflege ist auslegungsbedürftig. Die Auslegung erledigt die Bundesagentur für Arbeit, kontrolliert durch die Sozialgerichte. Die Weisungen der Bundesagentur sehen vor, dass bei der Pflege einer Person mit den Pflegegraden 4 und 5 die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit generell unzumutbar ist. Hat der Angehörige Pflegegrad 1, so ist danach eine Vollzeittätigkeit zumutbar. Bei den Pflegegraden 2 und 3 ist je nach Einzelfall eine Erwerbstätigkeit von bis zu 6 Stunden zumutbar (siehe Tabelle). Folgende Arbeitszeiten hält die Bundesagentur für pflegende Angehörige im Regelfall für zumutbar:

Grad der Pflegebedürftigkeit /Zumutbare Arbeitszeit

Pflegegrad 1 / Geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten / In der Regel Vollzeit

Pflegegrad 2 / Erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten / In Abhängigkeit von der erforderlichen Präsenz der Pflegeperson bis zu 6 Stunden pro Tag

Pflegegrad 3 / Schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten / In Abhängigkeit von der erforderlichen Präsenz der Pflegeperson bis zu 6 Stunden pro Tag

Pflegegrad 4 / Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten / nicht zumutbar

Pflegegrad 5 / Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung / nicht zumutbar

Wenn Sie eine Beschäftigung um der Pflege willen aufgeben, wird bei den Jobcentern mitunter penibel untersucht, ob Sie dazu – im Sinne des Gesetzes – berechtigt sind. Denn hier stellt sich unter Umständen die Frage, ob die Arbeitsaufgabe "sozialwidrig" ist. Ein Bundessozialgerichts-Urteil zu dieser Frage liegt noch nicht vor, allerdings ein rechtskräftiges Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen. Das Urteil zeigt klar, nach welchen Kriterien die Zumutbarkeit der Arbeitsaufnahme beurteilt wird.

Beispiel: Verhandelt wurde über den Fall einer Tochter, die ihre Vollzeitstelle aufgegeben hatte, um ihre Mutter pflegen zu können. Der Mutter war – nach dem alten Recht der Pflegeversicherung – die Pflegestufe II zuerkannt worden. Das entspricht dem heutigen Pflegegrad 3. Die Tochter war zuvor in Vollzeit als Hallenaufsicht am Bremer Flughafen beschäftigt. Die Tätigkeit erfolgte im Schichtdienst, wobei der Arbeitgeber die Schichtverteilung nur vier Tage im Voraus mitteilte. Da dies mit der Betreuung der Mutter, die mehrmals täglich Pflege benötigte, nicht vereinbar war, schloss die Betroffene mit ihrem Arbeitgeber einen Aufhebungsvertrag und gab ihre Stelle auf. Das Jobcenter sah hierin ein sozialwidriges Verhalten. Die Mutter habe lediglich Pflegestufe II gehabt, zudem habe die Tochter die Pflege nicht selbst übernehmen müssen, das habe auch ein Pflegedienst erledigen können. Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei daher grob fahrlässig erfolgt. 

Das sah das LSG anders. Es wies die Forderung des Jobcenters auf Rückzahlung der Leistungen zurück. Grundsätzlich seien der Tochter zwar Arbeitszeiten von bis zu sechs Stunden täglich zumutbar gewesen, doch mit der Schichtarbeit sei die Pflege nicht vereinbar gewesen. Im Prinzip sei zwar zu prüfen, ob die Pflege durch andere habe sichergestellt werden können. Dies sei hier aber nicht der Fall gewesen. Bei der erforderlichen Einzelfallbeurteilung der Sicherstellung einer Pflege durch Dritte sei "ebenfalls die Überlegung mit einzubeziehen, ob die Pflegeperson dem zustimmt, denn der zu Pflegende bleibt ein eigenständiges Individuum mit Selbstbestimmungsrecht". Im verhandelten Fall sei die Mutter hierzu keinesfalls bereit gewesen.

Tipp: Das Urteil bezieht sich noch auf das Arbeitslosengeld II, ist aber 1:1 auf das Bürgergeld übertragbar. Der Fall zeigt, dass es für pflegende Angehörige auch dann, wenn ihr Angehöriger "nur" in Pflegegrad 2 oder 3 eingestuft ist, möglich ist, Bürgergeld zu erhalten. Er zeigt aber auch, dass hier durchaus mit Schwierigkeiten zu rechnen ist. Wenn die Pflege es erlaubt, dürfte es, wenn es irgendwie möglich ist, sinnvoller sein, die Erwerbstätigkeit nicht aufzugeben, sondern "herunterzufahren". Erfahrungsgemäß dürfte dies bei Jobcentern auf weniger Widerstand stoßen.

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