Brüsseler Spätsommer, diesmal ohne Psychodrama

Die neue designierte Präsidentin der EU-Kommission legte nun endlich und mit einiger – den politischen Situationen in den Mitgliedsstaaten geschuldeten – Verspätung ihre Liste der Kommissarskandidaten vor. Damit beginnt jetzt der langwierige Prozess der Anhörungen im EU-Parlament. Ein Selbstläufer wird das nicht.
Schon die erneute Wahl der CDU-Politikerin zur designierten Präsidentin der EU-Kommission war bemerkenswert. Am Tag vor ihrer Wahl wurde Frau von der Leyen nämlich vom Europäischen Gerichtshof für die unrechtmäßige Geheimhaltung von Absprachen über milliardenschwere Impfstoff-Verträge während der Corona-Zeit verurteilt. Das höchste EU-Gericht in Luxemburg stellte in den Rechtssachen T-689/21 (Auken u. a./Kommission) sowie T-761/21 (Courtois u. a./Kommission) fest: „Die Kommission hat der Öffentlichkeit keinen hinreichend umfassenden Zugang zu den Verträgen über den Kauf von Impfstoffen gegen Covid-19 gewährt Dieser Verstoß betrifft insbesondere die Entschädigungsbestimmungen dieser Verträge und die Erklärungen über das Nichtvorliegen von Interessenkonflikten, die die Mitglieder des Verhandlungsteams für den Kauf der Impfstoffe abgegeben haben.“ Diese bemerkenswerte Abfuhr stellt gleichfalls den Auftakt für neue Anstrengungen dar, einen EU-weiten Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der politischen Entscheidungen während der Corona-Zeit auf den Weg zu bringen. Und dennoch wurde die verurteilte Frau von der Leyen am Donnerstag, dem 18. Juli, von einer Mehrheit der EU-Abgeordneten erneut ins Amt gehoben. Das ist völlig unverständlich: trotz eines fetten Eintrags im polizeilichen Führungszeugnis kann Frau von der Leyen erneut Kommissionspräsidentin werden, während andere aus gleichem Grunde Praktikumsverbot haben. Es fehlte keineswegs an Zeit, man hätte auch noch eine Woche warten können. Doch es fehlte der politische Mut, sich den Tatsachen zu stellen, und dazu gehört, dass die EU-Exekutive demnächst von einer Frau mit einem fetten Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis geleitet wird. Vertrauen für die EU wird dadurch nicht gefördert.

Hahnenkampf der Parteipolitiker

Der „Spitzenkandidaten“-Prozess ist tot – nie wieder ein Psychodrama! Im Vergleich zur Kommissionsbestellung vor fünf Jahren fällt auf, dass der „Spitzenkandidaten“-Prozess keine wirkliche Rolle mehr spielt. Der „Spitzenkandidaten“-Prozess war eine ideologisch getriebene Überspitzung der Vorgaben des EU-Vertrags, ein Hahnenkampf der Parteipolitiker. Der EU-Vertrag besagt, dass der Rat nach den Wahlen zum EU-Parlament bei der Festlegung des Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament berücksichtigt. Das bedeutet nichts weiter als eine Kodifizierung des gesunden Menschenverstands, nämlich, dass der Rat dem Parlament einen Kandidaten mit (möglichst deutlicher) Parlamentsmehrheit vorschlägt. Doch die EU-Föderalisten überstrapazierten diese Regel und verlangten, dass der Chef der größten Fraktion im EU-Parlament automatisch auch vom Rat als Kommissionspräsident ernannt werden müsse. Das war damals Manfred Weber von der CSU. Er und die Europa-Föderalisten beharrten auf dem selbstdefinierten „Spitzenkandidaten“-Prozess, wovon die Staats- und Regierungschefs jedoch nichts wissen wollten. So entbrannte zwischen Brüssel, Strasbourg und den Hauptstädten ein gefühlt unendlich dauerndes Psychodrama, das erst mit der Überraschungs-Ernennung von Ursula von der Leyen endete. Daran erinnerten sich heute noch die Protagonisten, nicht ganz ohne Schaudern, und deswegen ist der unehrliche „Spitzenkandidaten“-Prozess jetzt erstmal tot.
Die Auswahl der Kommissionskandidaten ist in Artikel 17 des EU-Vertrags festgelegt: Jede Regierung schlägt ihren Kandidaten aus dem Mitgliedstaat vor. Frau von der Leyen verlangte von den Regierungen jedoch zwei Kandidatenvorschläge, nämlich eine Frau und einen Mann, um sich dann selbst den Kandidaten auszuwählen. Machten die Mitgliedstaaten diesen klaren Vertragsbruch vor fünf Jahren noch mit, vermutlich unter dem Einfluss des damaligen Psychodramas, weigerten sie sich jetzt. Mit Ausnahme von Frankreich. Dort steht ja sowieso alles Kopf (und wir bereiten zur Situation in Frankreich einen besonderen Brief aus Brüssel über Deutschlands wichtigsten Partner in der EU vor). Jedenfalls nominierte Staatspräsident Macron zunächst den bisherigen Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton, der sich als lautstarker bunter Vogel Sichtbarkeit im Berlaymont, dem Amtssitz der EU-Kommission in Brüssel, erarbeitet hatte. Breton war gesetzt, bis Frau von der Leyen im Elysee-Palast anrief und um einen anderen Kandidaten ersuchte. Frankreich war gezwungen, den talentierten Monsieur Breton auszutauschen, im Gegenzug sollte es ein politisch wichtiges Politikfeld für einen weniger erfahrenen Kommissar aus Frankreich geben. Was für ein Affront. Aber Macron spielte mit, weil er aufgrund der chaotischen Situation in Frankreich auch nicht viel Spielraum hatte, und schlug Außenminister Stéphane Séjournet vor. Der ist eigentlich nur Insidern deswegen bekannt, weil er ein treuer Parteisoldat von Macron ist, als Fraktionschef der liberalen Fraktion „Renew“ (zu der die FDP gehört) der Schoßhund der spanischen Fraktionschefin der Sozialdemokraten war, der überraschend Außenminister in der Regierung seines Ex-Ehemanns Gabriel Attal wurde und dafür sofort sein EU-Mandat zurückgab (so viel zu seinen wirklichen europäischen Überzeugungen), aber am Tag seines Antrittsbesuchs in Deutschland völlig von der Bildfläche verschwand. Nun soll er „Exekutiver Vizepräsident für Wohlstand und Industrie“ werden.
Die Anhörungen im EU-Parlament werden allerdings keine Selbstläufer. Dafür hat Frau von der Leyen dem EU-Parlament gehörig auf die Füße getreten. Am Dienstag, dem 17. September, trat die Konferenz der Fraktionsvorsitzenden morgens um 9 Uhr zusammen, um von Frau von der Leyen das neue Personaltableau zu erfahren. 90 lange Minuten redete Frau von der Leyen und nannte keine Namen. Nichts Konkretes. Manchmal erweckte sie gar den Eindruck, es sei nur noch eine Frage von einem Tag oder vielleicht zwei, bis wirklich alle Details geklärt seien, aber der Prozess sei auf einem guten Weg, also nichts Beunruhigendes. Die Fraktionsvorsitzenden erfuhren auch auf Nachfrage keine konkreten Namen. Nach dieser Sitzung, die von den Fraktionschefs anberaumt war, um Namen zu erfahren und bei der keine Namen genannt wurden, eilte Frau von der Leyen schnurstracks in den Presseraum des EU-Parlaments in Strasbourg, wo sie der Weltöffentlichkeit mittels den versammelten EU-Korrespondenten eine beeindruckende PowerPoint-Präsentation zeigte: die Struktur der neuen EU-Kommission mit Portfolios und den Namen der Kandidaten. Sie hatte also die Fraktionsvorsitzenden des EU-Parlaments an der Nase herumgeführt, als sie so tat, es müsse noch ein wenig herumverhandelt werden, denn es stand schon alles fest. Werden das die Fraktionschefs so einfach durchgehen lassen?

Zwei grundsätzliche Fragen bei den Anhörungen in den Fachausschüssen

Bei den Anhörungen in den Fachausschüssen geht es um zwei grundsätzliche Fragen, nämlich die persönliche Probität des Kandidaten (was nach der Wahl von Frau von der Leyen trotz Verurteilung durch den EuGH ein ganz und gar relatives Kriterium sein sollte), und das Fachwissen für den Politikbereich. Anschließend entscheiden die Obleute der Fraktionen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, ob der Kandidat das Examen bestanden hat. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit ist in diesem neuen EU-Parlament mit einer erstarkten Rechten (und zwei neuen Fraktionen, nämlich den „Patrioten“ (ex-Fraktion „Identität & Demokratie“) und „Europa Souveräner Staaten“ um die AfD herum neben der bestehenden Fraktion „Konservative und Reformer“) gar nicht mehr so einfach zu erreichen. Und so werden die Aufstellungen für die Anhörungen auch zu einer Terminkalenderfrage. Die umstrittenen Kandidaten (vor allem der Orban-Getreue Oliver Varhely, der Meloni-Mann Raffaele Fitto, oder auch die Belgierin Hadja Lahbib) sollten einen frühen Anhörungstermin anstreben. Denn sollten sie aufgrund parteipolitischer Erwägungen durchfallen, können ihre Fraktionen andere Kandidaten danach durch die fehlende Zwei-Drittel-Mehrheit blockieren. Es bleibt also spannend.
Genießen Sie den Spätsommer!

Ihr

Junius

Die Leser kennen Junius seit vielen Jahren und trotz aller widrigen Umstände des Lebens wird Junius im „Brief aus Brüssel“ auch in diesem Jahr treu und objektiv über die politischen Entwicklungen in der EU in Brüssel berichten.

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.

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